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Heft 74: Neue Perspektiven auf die Geschichte

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42. Jahrgang 2023, 158 Seiten, broschiert

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Von jeher war die Geschichtsschreibung nicht nur auf das Berichten vergangener Ereignisse beschränkt, sondern wollte darüber hinaus von den Motiven und Beweggründen der Handelnden erzählen. Dabei floss auch immer die Perspektive des Erzählenden selbst mit ein. So sorgte Herodot, der „Vater der Geschichtsschreibung“, dafür, dass die „großen und wunderbaren Werke“ vergangener Generationen nicht verloren gehen und der Vergessenheit anheimfallen. Thukydides war vom „Nutzen“ geschichtlicher Nachrichten überzeugt, da sie uns über die immer gleiche „Natur“ des Menschen Aufschluss geben. Viele römischen Historiker waren voller Stolz auf ihre Stadt und empfahlen Tugend und Heldenmut ihrer Vorfahren der Nachahmung. Im Mittelalter dienten Chroniken der Stärkung und Verherrlichung der von Gott eingesetzten Ordnung. In der bürgerlichen Gesellschaft bemächtigte sich der Nationalismus der Geschichtsinterpretation. Um die Identifizierung der Bürger mit ihrer Nation zu fördern, wurde die Nationalgeschichte in die Lehrpläne der Bildungsinstitutionen aufgenommen. Und mit der Arbeiterbewegung begann eine „Geschichte von unten“, die beim Alltag, bei den Bedürfnissen und der Arbeit der Menschen ansetzte. Historiker:innen, die in Übereinstimmung mit ihrer Gegenwart forschten, begriffen die Geschichte als einen Prozess des Fortschritts, dessen (vorläufigen) Höhepunkt sie das Glück hatten, mitzuerleben. Wer mit seiner Zeit dagegen zerfallen war, dem erschien die Geschichte als ein Prozess des Niedergangs, der nur gewaltsam beendet werden konnte, wenn er nicht in eine Katastrophe münden sollte. Hatten Historiker:innen das Interesse, Prognosen über die Zukunft zu stellen, so erkannten sie geschichtliche Kreisläufe, deren Auf- und Abstiegsphasen sich in allen Kulturen wiederholten, oder sie entdeckten „eherne Gesetze“, die den Gang der Geschichte zu einer Naturnotwendigkeit erklärten. Postmoderne Denker:innen artikulierten dann das Misstrauen in diese „großen Erzählungen“, das Historiker:innen bewog, sich dem geschichtlich Vergessenen und Verdrängten zuzuwenden. Mehr als auf die Berichte und Erzählungen selbst ist das Interesse des vorliegenden Hefts auf die neuen Perspektiven gerichtet, aus denen die Geschichte gegenwärtig dargestellt wird. Diese Perspektiven lassen sich nicht nur in der Auswahl dessen aufzeigen, worüber berichtet wird, sondern auch darin, welche Schwerpunkte gesetzt werden und welcher „Sinn“ der Geschichte gegeben wird. Mit jeder Perspektive wird denn auch versucht, eine bestimmte Erinnerungskultur zu etablieren und damit eine geschlechter- oder klassenspezifische bzw. eine ethnische Identität zu stiften. Dass die Geschichte in aller Regel aus der Perspektive der Sieger:innen betrachtet wird, braucht nicht zu verwundern. Schließlich sind sie es, die die politische Hegemonie besitzen, die Universitäten und Schulen finanzieren, die Lehrpläne festschreiben, die Redaktionen der Zeitungen und Zeitschriften dominieren. Daran hat sich in den letzten Jahren allerdings manches geändert. Mit den neuen Perspektiven auf die Geschichte wird nicht mehr nur der Sieger:innen, sondern auch der Verlierer:innen oder Opfer der Geschichte gedacht und erinnert. Neben den „großen Taten“ der siegreichen Völker gehen auf diese Weise auch ihre Verbrechen an den besiegten Völkern ins kollektive Gedächtnis ein. Neben der Perspektive der Männer kommt jetzt die der Frauen zur Geltung, neben der Perspektive der Kolonisatoren die der indigenen Völker, neben der Perspektive der Menschen die der zerstörten Natur. Am Anfang unseres Hefts steht ein Beitrag zur Debatte um das Thema „Erinnerungskultur und -politik“. Aleida Assmann beantwortet darin Fragen, die ihr von der Redaktion des Widerspruch gestellt wurden. Daran anschließend zeigt Konrad Lotter am Beispiel der klassischen Geschichtsphilosophien, dass die Geschichte – im Gegensatz zu ihrem oft formulierten Anspruch überzeitlicher Objektivität – stets aus der Perspektive der Gegenwart geschrieben wird. Von ihr aus richtet sich der Blick zurück auf die Vergangenheit und nach vorn auf die Zukunft. Dabei hat die „Gegenwart“ für die verschiedenen Theoretiker:innen jeweils eine ganz verschiedene Bedeutung. Mit der Beschaffenheit der heute dominanten „westlichen“ und von „weißen“ Männern geprägten Geschichtsbilder setzt sich Carolin Dürr aus der Perspektive der Ethnologie auseinander. Sie diskutiert die Verfahren und Anstrengungen, sich in Forschung und Wissenschaft der Dominanz dieser Bilder zu entziehen. Sibylle Weicker zeichnet in ihrem Artikel über feministische Geschichtswissenschaften den Weg der Historiker:innen von der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts bis heute nach, der sie von der Frauen- zur Geschlechtergeschichte führte. Sie stellt die Entwicklung der theoretischen Konzepte für die Geschlechterkategorie dar und versucht, eine Verbindung der wissenschaftlichen Theorien mit der politischen Bewegung des Feminismus herzustellen. In seinem Beitrag geht Alexander von Pechmann angesichts des gegenwärtigen Klimawandels der Frage nach, ob und wie sich die traditionell menschengeschichtliche und die neue erdgeschichtliche Perspektive miteinander in einer einheitlichen Geschichte verbinden lassen. Den Beiträgen schließt sich ein umfangreicher Rezensionsteil von aktuellen Büchern zum Thema an. Das Sonderthema des Hefts ist Robert B. Brandoms Rekonstruktion von Hegels Phänomenologie des Geistes gewidmet. Rainer E. Zimmermann arbeitet in seinem Beitrag zunächst das Verfahren von Brandoms Rekonstruktion heraus und unterzieht es anschließend einer grundlegenden, an Schelling orientierten philosophischen Kritik. Rezensionen von interessanten Neuerscheinungen schließen das Heft ab. Die Redaktion

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